Europawahl

Berliner Zeitung vom 29.04.2014

Mit Elan auf nach Europa

Mit Elan auf nach Europa: Die Grüne Terry Reintke, 26, kandiert erstmals für das Europaparlament. Sie steht für die mobile Generation Erasmus, die Brüssel erobert. imago/Jens Jeske Foto: imago/Jens Jeske

PETERSHAGEN/BRÜSSEL

Früher hieß es: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa. Doch das Bild des Europäischen Parlaments hat sie gewandelt. Die Abgeordneten haben längst etwas zu sagen. Nun wollen sie das nach der Europawahl bei der Wahl des Kommissionspräsidenten auch unter Beweis stellen.

Einer fehlt zum Auftakt. Und das ist Elmar Brok. Er hat sich leicht verspätet an diesem Frühlingsmorgen. Dennoch watschelt der CDU-Politiker gelassen über die roten Fliesen in der Aula des Gymnasiums im ostwestfälischen Petershagen. Als Berufseuropäer stellt ihn Schulleiter Friedrich Schepsmeier gerade vor. Brok aber nuschelt auf dem Weg nach vorn zum Podium: „Europäer aus Berufung!“

Die Berufenen haben es nicht einfach in diesen Zeiten. Wozu und zu welchem Zweck brauchen wir Europa? Das leuchtet nicht jedem unmittelbar ein. Am Städtischen Gymnasium in Petershagen unweit von Minden haben sie auf der Suche nach Antworten die heimischen Kandidaten für die Europawahl zur Debatte geladen. Draußen grüßt altdeutsches Fachwerk, die Weser schlängelt sich durch grüne Wiesen, drinnen sind die Smartphones in die Jackentaschen gerutscht. Sozialdemokraten, Liberale und Grüne haben ihre jugendlichen Bewerber für die Europawahl am 25. Mai nach Ostwestfalen geschickt. Chino-Hose, Turnschuhe und Jackett trägt das junge Personal der Berliner Republik. Dazwischen sitzt Elmar Brok, 67, mit blauem Anzug, weißem Hemd und dem markanten, ewig blonden Schopf.

Der Unions-Politiker ist der einzige auf dem Podium, der schon im Europaparlament seinen Platz hat, und das seit 34 Jahren. Zuerst erzählt Brok, dass er aus Schloss Holte kommt, gleich um die Ecke. Und dann holt er mal eben kurz die große Weltpolitik ins kleine Petershagen. Brok spricht über Ukraine-Krise und NSA-Affäre, parliert über seine Reisen nach Kiew und Washington, streut hier ein Treffen mit US-Außenminister John Kerry ein und da ein Gespräch mit dem ehemaligen US-Geheimdienstchef Keith Alexander. Brok ist Chef des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments. Man kann es zu was bringen in Brüssel, wenn man will.

Frieden und Verständigung

Seit 1980 sitzt Brok jetzt im Europaparlament. Ein Jahr davor waren Europas Abgeordnete erstmals direkt vom Volk gewählt worden, bald etablierte sich der unschöne Spruch: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa. Brüssel als Endlagerstätte für Politiker jenseits der Halbwertszeit, so war das damals häufig. „Bei mir war das ein bisschen anders“, sagt Brok nach der Podiumsdiskussion. Schon mit zwölf hat er sich hingesetzt und einen Brief geschrieben an Richard Coudenhove-Kalergi, einen österreichischen Adligen, der im Ersten Weltkrieg als einer der ersten die Idee zu einem vereinigten Europa formuliert hatte. „Ich bin nicht über die CDU zu Europa gekommen, sondern über Europa zur CDU“, sagt Brok.

Seit 34 Jahren werkelt Brok nun schon in Brüssel, sein ganzes Politikerleben. Nach der Wahl wird er der letzte Abgeordnete sein, der schon dem ersten direkt gewählten Europaparlament angehört hat. Ein europäisches Fossil. Im ersten Plenum saß damals der einstige Widerstandskämpfer Willy Brandt neben dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Philipp von Bismarck, der deutsche Gewerkschafter Oskar Vetter neben der italienischen Fiat-Erbin Susanna Agnelli, der junge Sozialist Jacques Delors neben dem konservativen europäischen Gründervater Pierre Pflimlin. Eine zusammengewürfelte Truppe also, so bunt wie Europa. Den meisten reichte es als Symbol erstmal, dass die Parlamentarier überhaupt beisammensaßen.

Was hat sich seither gewandelt? Nach der Debatte mit den Schülern erzählt Brok bei Kaffee und Keksen, wie das so war, damals in den Straßburger Parlamentswochen, als Europa abends in den Restaurants miteinander ins Gespräch gekommen sei und der Deutsche Philipp von Bismarck und der Brite Tom Normanton plötzlich feststellten, dass sie im Zweiten Weltkrieg in den Ardennen im selben Frontabschnitt gekämpft hätten. Gegeneinander. „Die haben sich weinend in den Arm genommen“, erzählt Brok. Und unter seiner dicken Brille werden auch mehr als drei Jahrzehnte nach jenem Abend die Augen feucht.

Es ist die alte Geschichte von Frieden und Völkerverständigung. Aber was hat sich im Parlamentsalltag geändert? „Damals waren wir neun, heute sind wir 28 Mitgliedstaaten“, sagt Brok. Und sonst? „Das Parlament hat seine Befugnisse stetig ausgebaut: Volles Etatrecht, Zustimmung zu Außenhandelsverträgen, Wahl des Präsidenten der EU-Kommission – mit dem Vertrag von Lissabon haben wir seit 2009 echte Mitbestimmung.“ Brok hat kräftig daran mitgewirkt, dass das Europäische Parlament nicht nur repräsentiert, sondern etwas zu sagen hat.

Das haben Europas Abgeordnete die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten in den vergangenen fünf Jahren auch spüren lassen. Sie haben das Urheberrechtsabkommen Acta gestoppt, bei der Bankenunion kräftig mitverhandelt. Mehr als sechzig Prozent der Gesetze, die in Deutschland eingeführt werden, kommen laut einer Schätzung mittlerweile aus Brüssel. Mit wachsender Beteiligung des Europaparlaments. Nach dessen Willen soll nach der Europawahl erstmals sogar der siegreiche Spitzenkandidat zum Chef der EU-Kommission aufsteigen. Ein parlamentarischer Aufstand. Nur hat diese Machtverschiebung außerhalb Brüssels kaum jemand so recht mitgekriegt.

Europa wird gern übersehen. Brüsseler Abgeordnete kennen das, sie werden zwischen den Vertretern des Bundestags und der Landtage bei offiziellen Anlässen in ihrer Heimat oft übergangen. „Dann sage ich: ‚Europa ist auch noch da‘“, erzählt Evelyne Gebhardt mit einem fröhlichen Lächeln.

In Paris geboren, in Künzelsau verheiratet – also ihr eigenes Europa-Modell: Deutsch-Französin Evelyne Gebhardt, 60, sitzt seit 1994 für die SPD im Europaparlament.
Die 60-jährige Sozialdemokratin ist seit 20 Jahren Europaabgeordnete. Die zierliche Frau spricht mit leichtem französischem Akzent, und wenn sie zu Hause im württembergischen Künzelsau redet, fragt manch einer, ob sie schon so lange in Brüssel arbeite, dass sich das in der Sprache niederschlage. Doch die Frage nach dem Zuhause lässt sich bei Gebhardt gar nicht so leicht beantworten. Geboren ist die Abgeordnete in Paris, die Liebe hat die Germanistin nach Deutschland verschlagen.

Als sie 1994 erstmals ins EU-Parlament eingezogen ist, herrschte nach dem Fall der Mauer Aufbruchstimmung, der Vertrag von Maastricht hatte 1992 nicht nur den Euro geschaffen, sondern auch dem EU-Parlament mehr Rechte gegeben. „Es ging um Vertiefung und Verfasstheit“, erinnert Gebhardt sich. Doch in Zeiten der Eurorettung steht Maastricht weniger für Vision als für Krise. Die Abgeordnete kann auch erklären, wann das Europagefühl umgeschlagen ist in den Neunzigerjahren – vom gemeinsamen europäischen Mythos zur nationalen Erzählung. „Das fing an in der Zeit nach Helmut Kohl. Plötzlich hieß es nach den Gipfeln von den Regierungschefs nicht mehr: ‚Schaut, was wir für Europa erreicht haben!‘ Stattdessen wurde erklärt: ‚Schaut, was wir gegen Brüssel verhindert haben.‘“ Aus Europa, dem Sehnsuchtsort, ist Brüssel, die Regelungsmaschine, geworden.

Die Macht der Lobbyisten

Wenige Wochen vor der Wahl sitzt Evelyne Gebhardt in einem schmucklosen Saal des Brüsseler Europaparlaments mit jungen Stipendiaten der Friedrich-Ebert- und Hans-Böckler-Stiftung zusammen. Die fragen nach dem Freihandelsabkommen der EU mit den USA, der Macht der Lobbyisten in Brüssel und der Privatisierung von Wasserwerken. Gegen die hat Gebhardt im Parlament erfolgreich gekämpft. Und als sie nach einem prägenden europäischen Moment gefragt wird, erzählt sie vom Pendeln zwischen Stuttgart und Paris in ihrer Studentenzeit und von den langen Grenzkontrollen am Rhein. „Diese Grenzenlosigkeit heute erleben zu dürfen, ist wunderbar“, sagt sie. Manches von Europas Leistungen wird im Alltag leicht übersehen.

Im Foyer des Parlaments wird an diesem Tag noch eine Foto-Ausstellung über türkische Migranten in Deutschland eröffnet. Die FDP-Abgeordnete Nadja Hirsch spricht das Grußwort, der türkische EU-Botschafter ist zugegen. Das europäisch-türkische Verhältnis ist nicht gerade unkompliziert. Hirsch schlägt einen Bogen vom türkischen Nationalfeiertag, über den Ersten Weltkrieg bis zu gemeinsamen Werten. Wer diese Werte teile, könne auch Teil der EU sein, sagt sie mit Blick auf die Debatte um Twitter-Beschränkungen, Pressefreiheit und türkische EU-Mitgliedschaft. „Geschickt gelöst“, zischelt es im Publikum.

Nadja Hirsch, blondes Haar, leicht bayerisches Idiom, ist 35 Jahre alt. Als Elmar Brok zum ersten Mal ins Europaparlament einzog, da lernte sie gerade laufen. Wer sich aber mit ihr über einschneidende politische Erlebnisse unterhält, dem entgegnet die Münchnerin: „Der Jugoslawien-Krieg. Plötzlich war da Krieg in einem Land, das man von Urlaubsreisen kannte. Das hat mich schon geprägt.“ Frieden zählt in Europa noch immer. Gerade in diesen Tagen.

Die Debatten seien ergebnisorientierter hier, sagt die FDP-Abgeordnete Nadja Hirsch. Seit 2009 ist sie in Brüssel, zuvor war die Liberale im Münchner Stadtrat.
Foto: dpa/Andreas Gebert
Hirsch hat in München im Stadtrat gesessen. Im Europaparlament hat sie sich für ein liberales Asylrecht und Netzneutralität stark gemacht. Ihre Zwischenbilanz nach einer Legislaturperiode in Brüssel: „Im Vergleich zu Bundestag und Landtagen steht hier weniger der politische Gegensatz im Zentrum. Gestritten wird im Europaparlament auch, aber die Debatte verläuft ergebnisorientierter. Das macht die Arbeit hier so spannend.“

Nadja Hirsch kennt das alte Europa noch, die D-Mark und die Passkontrollen an den Grenzen. Zur Europawahl im Mai tritt nun die nächste Generation an, für die Europa selbstverständlich ist – die Generation Erasmus, die sich in ganz Europa selbstverständlich bewegt. Für die es nichts Besonderes mehr ist, dass Briten, Deutsche und Ungarn in Parlament zusammenkommen. Sie wollen, dass das Parlament endlich zu einem europäischen Forum wird. Sprachen sind für sie dabei kein Hindernis, sie haben an vielen Orten in Europa gelebt.

Das lässt sich auch in Petershagen beobachten. Zwei Schulstunden dauert die Debatte mit den Jugendlichen, es geht viel um die Ukraine, aber auch um sperrige Begriffe wie Eurosur und Eurodac, Eurokrise und Primärüberschuss. Es ist nicht leicht zu verstehen, dieses Europa. Auf dem Podium mit Elmar Brok sitzt ganz links außen die junge Grünen-Politikerin Theresa „Terry“ Reintke. Sie ist 26, blond und kann sehr flink sprechen. Reintke hat als Sprecherin der Europäischen Grünen Jugend in Brüssel gearbeitet und kandidiert nun erstmals für das Europaparlament. Und wer sie fragt, warum sie im vergangenen Jahr nicht für den Bundestag angetreten sei, dem antwortet sie: „Ist doch viel spannender in Brüssel. Es geht um ein einzigartiges Projekt.“

Transnationale Demokratie

Elmar Brok, der Veteran, hat lange an diesem Projekt mitgewerkelt. Nach all den Stürmen mit Mauerfall, EU-Osterweiterung und den turbulenten Jahren der Eurorettung sagt der CDU-Politiker: „Wir brauchen eine Phase der Konsolidierung.“ Andere sind da etwas forscher.

Über Europa sei er zur CDU gekommen, sagt Elmar Brok, 67, aus Ostwestfalen. Er sitzt seit 1980 im Europaparlament, heute als Chef des Auswärtigen Ausschusses.
Foto: Michel Stassart
„Natürlich ist die Gefahr groß, das alles als selbstverständlich anzusehen“, sagt die Grüne Terry Reintke – mit Blick auf europäische Leistungen wie Erasmus und das grenzenlose Reisen. Aber auch mit Blick auf europaparlamentarische Vorkämpfer wie Elmar Brok. Und wo steht Europa in 50 Jahren? Die deutsch-französische Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt träumt von einem europäischen Bundesstaat. Und die FDP-Abgeordnete Nadja Hirsch erklärt mit bayerischem Eigensinn: „Ein föderaler Bundesstaat – mit mehr Macht für die Regionen.“ Terry Reintke wünscht sich eine echte „transnationale Demokratie“.

Sie wissen, was sie tun in Brüssel. Nach der Wahl wollen sie die Staats- und Regierungschefs herausfordern und ihren Spitzenkandidaten mit ihren Stimmen ins Amt des Kommissionspräsidenten befördern. Europa ist immer in kleinen Schritten gewachsen. Die Macht des Parlaments auch. Noch beargwöhnen sie in Europas Hauptstädten diesen kleinen Putsch misstrauisch. Aber Elmar Brok, der Veteran, sagt: „Nach dieser Wahlkampf mit EU-weiten Spitzenkandidaten können wir dahinter nicht zurück.“

AUTOR
Peter Riesbeck
Korrespondent, Brüssel

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