„Computerspiele sind die großen Leistungskiller“

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vom 24.10.2009

 

Der Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer über den Medienkonsum von (männlichen) Jugendlichen und die Folgen

Der Kriminologe Christian Pfeiffer war vor zwei Jahren bereits im Mühlenkreis zu Gast. Am 18. September 2007 referierte er beim Mindener Werteforum. Am kommenden Dienstag und Mittwoch gastiert er im Gymnasium Petershagen.

Von Karsten Versick

Petershagen/Hannover (mt). „Jungen und andere Pisa-Verlierer – Opfer ihres Medienkonsums? Was ist zu tun?“ steht als Thema über der zweitägigen Veranstaltung mit dem Kriminologen Professor Christian Pfeiffer im Städtischen Gymnasium Petershagen. 34 000 Jungen und 3700 Mädchen eines jeden Geburtstagsjahrgangs in Deutschland spielen nach seinen Angaben suchtartig am Computer – mit negativen Folgen: „Computerspiele sind die großen Leistungskiller“, stellt Pfeiffer fest.

Warum befasst sich ein Kriminologe mit diesem Thema? Besteht ein Zusammenhang zwischen Jungen, Computern, schlechten schulischen Leistungen und kriminellem Potenzial?

Jungen brauchen, genau wie Mädchen, Anerkennung. So wie die Pflanzen den Regen und die Sonne brauchen, brauchen junge Menschen ganz speziell immer wieder, dass sie wahrgenommen werden, dass sie positiv registriert werden, brauchen Zuspruch und Lob, um sich gut entfalten zu können. Wenn das auf die normale Weise über sportliche, schulische, musikalische oder soziale Leistungen nicht so richtig läuft, dann sind sie erst mal frustriert und orientieren sich in eine Richtung, wo die Anerkennung dann von Kumpels kommt, die es cool finden, wie man drauf ist. Aber das sind dann häufig unerfreuliche, bisweilen eben auch kriminelle Verhaltensweisen, mit denen sie Anerkennung suchen.

Welche Verhaltensweisen meinen Sie konkret?

Dass man gemeinsam mit anderen einen draufmacht, dem Alkohol zuspricht und sich damit hervortut, in Windeseile eine Flasche runterzugurgeln. Oder dass man andere Leute verschreckt, „happy slapping“ betreibt – der eine prügelt, der andere fotografiert und stellt es ins Internet und blamiert Mitschüler –, dass man mobbt, dass man sich „Macho-mäßig“ orientiert. Diese Potenziale stecken in einer großen Zahl von Jugendlichen. Man ist nun mal eine Zeit lang eine Raupe, bevor man ein Schmetterling wird. Ob solche Verhaltensweisen zum Ausbruch kommen oder man die normale Pubertätskrise mit knallenden Türen und „blöder Papa“ noch glimpflich bewältigt, hängt auch davon ab, wie es schulisch läuft. In der Schule ist das Potenzial groß, Anerkennung zu ernten. Dabei muss man nicht überall die Note 1 haben, sondern einfach mal Lob abbekommen, wahrgenommen werden, sozial etwas zählen.

Welche Jugendlichen sind besonders gefährdet, abhängig von Medienkonsum und speziell Computerspielen zu werden?

Es sind generell besonders die gefährdet, die gerade eine typische Pubertätskrise durchlaufen. Die, die sich im Moment im Leben arm fühlen, die wollen reich in der virtuellen Welt werden. Und die, die momentan wenig Anerkennung erfahren, die eine Phase durchlaufen, wo mit den Eltern Zoff ist. Die lassen sich gerade scheiden, haben Stress zu Hause, haben keinen Blick für ihren Jungen, der rumhängt bei Freunden und in der Schule wenig Anerkennung findet. Wenn es dann keine Leidenschaften gibt – im Sport, in der Musik, für irgendwelche Inhalte im Leben –, wer im realen Leben also schwach verankert ist, der ist in Gefahr, eher abzurutschen.

Spielt auch der Bildungsgrad der Eltern eine Rolle?

Das ist der wichtigste Faktor bei der Frage, welche Kinder besonders gefährdet sind. Je höher der Bildungsgrad der Eltern ist, desto reichhaltiger ist auch – meist aufgrund guten Einkommens – das Freizeitangebot. Deren Kinder entwickeln dann Leidenschaften und Faszinationen für irgendwelche Themen und sind dadurch weniger gefährdet. Wer aber arm im Leben ist, weil die Eltern kein Geld haben und nur die Billiglösung Fernseher und Computer anbieten, der ist aufgrund von mangelnden Anregungen am meisten gefährdet. Wenn beide Eltern Abitur haben, haben nur elf Prozent ihrer zehnjährigen Kinder eine Playstation. Wenn aber beide Eltern einen Hauptschulabschluss haben, sind es 43 Prozent. Beim Fernsehen ist das Verhältnis 16:57.

Welche Rolle spielen die Medien?

Jungen verbringen im Alter von 15 Jahren im Schnitt 2,4 Stunden pro Tag mit Computerspielen. Das ist vom Zeitbudget – wenn man berücksichtigt, dass diese 2,4 Stunden auch gelten für die Wochenenden und die vielen freien Tage, die man hat – etwa gleich viel Zeit wie die Unterrichtszeit pro Jahr, denn man hat ja ein Drittel des Jahres keinen Unterricht. Es wird gern übersehen, dass die Prägezeit – wie man Dinge wahrnimmt, einschätzt, beurteilt – bei vielen Jungen ganz massiv durch die Medien geprägt wird. Der durchschnittliche männliche Hauptschüler verbringt viereinhalb Stunden pro Tag mit Medien. Bei solchen Zeiten wird es wirklich kritisch. Bei Jungen gehört zum Aufwachsen ganz stark Bewegung dazu. Wenn Bewegungsarmut eintritt durch Medienkonsum, dann kann sich daraus auch Gewalt entwickeln. Es muss nicht, aber es kann in diese Richtung gehen.

Verhalten sich Mädchen anders als Jungen?

Mädchen haben einen höheren Kommunikationsbedarf als Jungen. Den stillen sie durch stundenlanges Quatschen am Telefon, durch Chatten oder sonst was. Vor allem aber haben Mädchen Abscheu vor Gewalt, während Jungen davon fasziniert sind. Dieses Verhalten ist für die Jungen eine Falle, weil diese Faszination von Gewalt übermäßig gewichtig wird durch das Angebot der bewegten Bilder in Filmen und vor allem des Selbstproduzierens von Gewalt in der virtuellen Welt von Computerspielen.

Ist die Gefahr der Abhängigkeit von Medien und Computerspielen die größte Suchtgefahr für Jugendliche? Oder ist die Gefahr von Alkohol – Stichwort: „Komasaufen“ – größer?

Es dreht sich gerade. Wir haben feststellen müssen, dass die Kultur der Anerkennung, die die Computerspiele bereithalten, inzwischen so brillant ausgestaltet ist mit abgestuften und großartig inszenierten Anerkennungsritualen, wie sie im realen Leben nur mühsam erreicht werden kann. Die Neurobiologen sprechen dabei von einer „Dopamin-Dusche“. Dopamin ist der Glücksbote, der vom Körper ausgeschüttet wird, wenn man beispielsweise beim Fußball in der letzten Minute den entscheidenden Elfmeter verwandelt. Beim Computerspielen ist die Verführung der schnellen und schnell getakteten Anerkennung sehr viel größer. Man wird in ein sehr hohes Glücksgefühl hineingeführt. Wenn man von Level 1 in Level 2 und dann in 3, 4 und 5 gelangt, erntet man von den Kumpels eine ganze Serie von Anerkennung.

Gibt es konkrete Zahlen, wie viele Jugendliche in Deutschland abhängig von Computerspielen oder gefährdet sind?

Wir haben eine große Untersuchung mit Geldern des Bundesinnenministeriums machen können. 45 000 Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren wurden befragt. Dabei haben wir herausgefunden, dass Jungen fast zehn Mal häufiger gefährdet sind als Mädchen. Bei Jungen sind es pro Geburtsjahrgang rund 34 000, die in suchtartiges Spielen geraten. Bei Mädchen sind es 3700. Wir mussten feststellen, dass es in jedem Geburtsjahrgang 13 000 richtig abhängige Jungen sind gegenüber 1300 Mädchen. Ein Großteil der Aktiv-Spieler sind übrigens Realschüler und Gymnasiasten. Die Folge: Wir hatten im vergangenen Jahr nur noch 117 000 männliche, aber 149 000 weibliche Abiturienten. Umgekehrt sind bei denen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, 64 Prozent männlich und 36 Prozent weiblich. Damit ist nicht mehr zu bezweifeln: Es sind vor allem die Computerspiele, die die großen Leistungskiller sind.

Sie gastieren in der kommenden Woche in Petershagen, das sehr ländlich strukturiert ist. Dort ist das Freizeitangebot nicht so üppig wie in (Groß-)Städten. Neigen Jugendliche „auf dem Lande“ daher zu erhöhtem Medienkonsum?

Leider ja. In ländlichen Regionen sind die Wege – beispielsweise zur nächsten Musikschule – weit, es gibt weniger tolle sportliche Angebote, es wird zwar für Natur-Freaks einiges geboten und das ländliche Leben eröffnet auch Vorteile. Aber faktisch langweilen sich Jugendliche auch. Gelangweilte Jugendliche sind am meisten gefährdet, in die erwähnten Probleme hinein zu rutschen.

Woran können Eltern erkennen, ob ihr Kind gefährdet oder abhängig ist?

Die wissen ja, was der Sohn so treibt, dass er in seinem Zimmer sitzt und die Kopfhörer auf hat – und wenn sie reinkommen plötzlich am Bildschirm etwas weg drückt. Die kennen die ganzen Verlegenheitsgesten und Ausreden. Eltern merken relativ früh, ob zu viel Computer gespielt wird. Der Übergang vom zu viel spielen zum suchtartig spielen kommt allerdings schleichend. Den merkt man dann, wenn der Junge beispielsweise Termine nicht mehr einhält.

Woran können Lehrer erkennen, ob Schüler gefährdet oder abhängig sind?

Am deutlichsten sind völlig übermüdete Kinder, weil sie bis spät in den Abend hinein spielen und dann nicht einschlafen können. Ein weiteres sicheres Indiz ist, wenn Hausaufgaben grob vernachlässigt oder gar nicht mehr erledigt werden. Schule schwänzen kann ein Indiz sein, eine geistige Abwesenheit im Unterricht ist ebenfalls ein typisches Merkmal für Jungen, die abdriften. Und natürlich die Schulnoten, die deutlich wegbrechen.

Können Jugendliche sich selbst auf ihre Abhängigkeit überprüfen?

Ja. Deswegen rede ich ja häufig – wie auch in der kommenden Woche in Petershagen – mit Kindern aus den 5. bis 9. Klassen. In diesen Veranstaltungen kommen regelmäßig Schüler und Jugendliche zu mir und wollen sich outen. Und dann diskutiere ich mit ihren darüber. Es ist sehr erfreulich und vertrauensvoll und positiv, dass da eine konstruktive Auseinandersetzung erfolgt.

Für den Vortrag von Prof. Pfeiffer am Dienstag, 27. Oktober, ab 19.30 Uhr im Gymnasium Petershagen gibt es noch freie Plätze. Anmeldungen nimmt das Kunden-Servicecenter der Volksbank Petershagen, Tel.: 0 57 05 /12 10, entgegen.

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