Schüler/innen navigieren in der Natur vor „dunklem Bildschirm“

„Eine coole Erfahrung“ – mit diesen Worten kommentierte eine Schülerin ein sogenanntes „Wahrnehmungsexperiment“, das im Rahmen des Wandertages einer EFKlasse mit Herrn Dr. Braun am 02.09.2021 in der Natur durchgeführt wurde.

Was ändert sich, wenn wir auf den Sehsinn verzichten?

Zugrunde lag die Frage, was sich in der Gesamtwahrnehmung unserer Umgebung verändert, wenn wir den wichtigsten Sinn – das Sehen – einfach weglassen. Können andere unserer Sinne – etwa das Hören, Tasten, Riechen – den fehlenden Sehsinn ersetzen oder kompensieren? Und wie bildet sich ohne das Sehen eine Gesamtvorstellung der Umgebung aus, in der wir uns befinden?
Um dies zu untersuchen, wagte ein Drittel eines Oberstufenkurses die Abdeckung der Augen mit blickdichten Tüchern und begab sich vertrauensvoll in die Obhut der restlichen Schülerinnen und Schüler des Kurses und ihres Lehrers. Jede Testschülerin und jeder Testschüler wurde von je zwei begleitenden Schülern links und rechts flankiert.

Verwirrte Orientierung

Die Gruppe startete vor dem Gymnasium Petershagen und ging dann nach rechts in einem großen Bogen im Gänsemarsch über Bremer Straße und Hafenstraße in das Areal, das an das Petershagener Schloss angrenzt. Der dorthin beschrittene Umweg diente dazu, den Orientierungssinn der Schüler/innen erst einmal zu verwirren mit dem Ziel, dass selbst ortskundige Einheimische nicht mehr wissen, wo sie sich im Testareal befinden. Das klappte allerdings nur teilweise. Manche Schüler zeigten beeindruckende Fähigkeiten, ihre Ortskenntnis auch ohne den Sehsinn und die „Verwirrungstaktik“ aufrechtzuerhalten – eine erste Erkenntnis, die zeigte, zu welchen Leistungen unser Vorstellungsvermögen in der Lage ist.
Im Testgebiet angekommen, wurden die Schüler zunächst zum Rand einer Blumenwiese geführt. Schnell und sicher waren sie dazu in der Lage, ihre Umgebung als Blumenwiese (oder -beet) zu identifizieren. Dabei fiel ihnen etwa auf, dass die Blumen sich kühl anfühlten – sie waren feucht vom kühlen Morgentau. Möglicherweise hätten sie dies kaum bemerkt, wenn sie die Blumen direkt gesehen hätten. Die Schüler/innen meinten denn auch, dass nach Wegfall des Sehsinns die anderen Sinne nicht unbedingt geschärft würden, man aber mehr auf Tast- und Hörempfindungen achte als gewöhnlich. In der Wiese assoziierten die Schüler/innen mit dem, was sie ertasteten, sogar bestimmte Farben. Diese stimmten mit den realen Verhältnissen nicht immer überein. Jene unwillkürlichen Assoziationen sind ein Beispiel dafür, dass unser bildliches Vorstellungsvermögen durch Eindrücke verschiedener Sinne in Gang kommt – ein Prozess, der nur in unserem Inneren stattfindet.

Der Aufgabenparcours

Nun galt es für die Probanden, stets eng begleitet von ihren beiden „Betreuern und Beobachtern“, weitere Aufgaben zu lösen. So hatten sie etwa Gelände-Unebenheiten zu überwinden und solche Stellen genau zu beschreiben – einschließlich der wechselnden Bodenbeschaffenheiten. Zudem erklang in etwa zehn Metern Entfernung ein leises Glöckchen, das sie zu orten hatten. Der Weg zum Glöckchen erwies sich dabei als erstaunlich schwierig; die Glocke musste mehrfach geläutet werden. Von der dann endlich erreichten Klangquelle zum Ausgangspunkt zurückzugehen, von dem aus die Klangquelle vorher angestrebt wurde, war für viele fast unmöglich. Hier konnte gezeigt werden: Wir Menschen „hören auch mit den Augen“. Allein auf akustischem Wege wird die Quelle des Geräuschs nur ungenau verortet.
Danach ging es darum, Umgebungsgeräusche zu identifizieren und in ein Ranking zu bringen. Den Probanden fiel auf, wie dominierend selbst in der gewählten Naturumgebung die Geräusche von Motoren sind. Sie überdecken viele leisere Geräusche – Vogelzwitschern etwa war kaum wahrnehmbar.

Wer findet zurück?

Nach weiteren Tests trat die Gruppe dann den Rückweg aus dem Gelände an – geführt von zwei Schüler/inne/n, die miteinander Einigkeit herstellen sollten über den rechten Weg aus dem Gelände, ohne miteinander zu sprechen. Diesen beiden Probanden gelang es recht gut, eine geeignete Strategie der Verständigung zu finden: Sie hakten sich zunächst unter, um sich nicht zu verlieren und suchten dann solange, bis sie festen Untergrund unter ihren Füßen fühlten, in dem sie sich einen Weg erhofften. Sehr genau merkten sie, wenn sie an den linken oder rechten Rand dieses Weges gelangten und korrigierten so ihre Richtung. Dies führte zwar bisweilen zu einem Zickzackkurs, aber anhand der Lautstärke von Autos, die auf der Straße fuhren, die sie schließlich erreichten, erkannten sie korrekt, wann sie die Testlandschaft verlassen hatten. Natürlich passten auch hier viele Begleiter auf, dass die Probanden sich nicht in Gefahr brachten.
Jedes Experiment wurde von den Betreuern / Beobachtern anhand eines Auswertungsbogens gewissenhaft dokumentiert, so dass mit diesen Ergebnissen beispielsweise im Philosophieunterricht, wo es im Rahmen der Erkenntnistheorie auch um Wahrnehmung geht, damit weitergearbeitet werden könnte.

Die Schüler/innen waren am Ende des 2 ½-stündigen Experiments froh, als sie ihre Augentücher wieder abnehmen konnten. An das helle Sonnenlicht mussten sich ihre Augen erst wieder gewöhnen.
Als man nun – „sehenden Auges“ – erneut ins Testgelände zurückging, war man bisweilen erstaunt: Die Dimensionen dieses Bereichs hatte man sich vorher ganz anders vorgestellt. Interessanterweise fiel es aber gar nicht leicht, mit Worten die in der Vorstellung entstandene Version mit der Realität selbst zu vergleichen. Das Auf und Ab im Gelände, so äußerte eine Schülerin, sei ohne Sehsinn viel stärker erlebt worden, als es sich nun real darstelle.

Ausklang in Büschings Mühle

Alle wanderten dann – in angeregte Gespräche vertieft – entlang der Weser zu Büschings Mühle, wo der Wandertag mit Ballspielen fortgesetzt wurde.
Schließlich konnten sich Schüler/innen und Lehrer mit einer Pizza stärken. Das gemeinsame Erleben an diesem Tag diente auch dazu, die Gruppe in jenem neu zusammengesetzten Ober-stufenkurs noch besser zusammenwachsen zu lassen. Dass dies gelang, war deutlich zu erle-ben. Als die Schülerinnen und Schüler den Heimweg antraten, war man sich einig: Interessante Erfahrungen und das schöne Zusammensein hatten einen „runden Tag“ ergeben.

Stefan Braun

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